Warum Körpermodifikation mehr als nur Körperschmuck ist

Wenn wir im Juni Pride feiern, tun wir das nicht nur aus Freude – sondern auch aus Protest, Erinnerung und Stolz. Der Pride Month bedeutet Sichtbarkeit, Selbstermächtigung und das Feiern queerer Identitäten. Er bedeutet ein unermüdliches Streben nach Gleichberechtigung für alle Körper und Identitäten. Aber was hat das eigentlich mit Piercings zu tun?

Mehr, als viele denken.

Die moderne Piercingkultur, wie wir sie heute kennen – professionell, vielfältig, künstlerisch – entstand nicht im luftleeren Raum. Sie ist tief verwurzelt in queeren, alternativen Subkulturen und hat sich aus einem Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Abgrenzung und Ausdruck entwickelt. 

Pride als politisches Statement – auch durch den Körper

„Pride“ bedeutet Stolz – der bewusste Gegensatz zur jahrhundertelangen Scham, mit der queere Menschen leben mussten und heute noch müssen. Pride ist ein aktives Bekenntnis zur Individualität und Vielfalt. Genau dieses Prinzip ist auch im Piercing wiederzufinden: Für viele Menschen – ob queer, nicht-binär, trans oder einfach nonkonform – ist Körperschmuck ein Weg, um Identität sichtbar zu machen. Ein Piercing ist nicht einfach nur ein dekorativer Ring in der Nase oder ein Stecker im Ohr. Es ist oft ein Symbol für Individualität, Widerstand gegen gesellschaftliche Normen, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Community und Selbstermächtigung über den eigenen Körper.

Stonewall

Farbenfrohe Paraden mit Festwagen und Prominenten, fröhliche Feste, Workshops, Picknicks und Partys gehören zu den wichtigsten Bestandteilen des LGBTQIA+ Pride Month, der im Juni in den Vereinigten Staaten und anderswo auf der Welt gefeiert wird. Pride erinnert an den jahrelangen Kampf für die Bürgerrechte und das fortwährende Streben nach gleichem Recht für die lesbische, schwule, bisexuelle, transgender und queere Gemeinschaft sowie an die Errungenschaften von queeren Personen. Aber warum wird der Pride Month im Juni gefeiert?

Das Ereignis, das die LGBTQIA-Rechtsbewegung auslöste, fand im Juni 1969 im Stonewall Inn in Greenwich Village in New York City statt. Morgens am 28. Juni führte die Polizei eine Razzia in diesem beliebten Treffpunkt für junge Mitglieder der LGBTQIA-Community durch – sie verhaftete die Angestellten wegen des Verkaufs von Alkohol ohne Lizenz, verprügelte viele der Gäste und räumte die Bar. Draußen wurde die Menge, die zusah, wie die Gäste der Bar in Polizeifahrzeuge getrieben wurden, wütend. Zuvor hatten Zeugen der polizeilichen Schikanen gegen Mitglieder der Community tatenlos zugesehen, doch diesmal verhöhnte die Menge die Polizei und bewarf sie erst mit Münzen und dann mit Flaschen und Trümmern, so dass die Polizei gezwungen war, sich in der Bar zu verbarrikadieren und auf Verstärkung zu warten. Es dauerte nicht lange, bis etwa 400 Personen einen Aufstand machten.

Obwohl die Verstärkung der Polizei die Menge zerstreute, kam es in den nächsten fünf Tagen immer wieder zu Unruhen vor der Bar. Diese Stonewall-Aufstände waren der Auslöser für die LGBTQIA-Rechtsbewegung in den Vereinigten Staaten.

Der für den 28. Juni 1970, dem ersten Jahrestag der Stonewall-Aufstände, geplante Umzug wurde nach der Straße, die das Epizentrum der LGBTQIA-Gemeinschaft von New York City war, und dem Ort, an dem der Umzug beginnen sollte, Christopher Street Liberation Day March genannt.

Die queeren Wurzeln des modernen Piercings

Als Jim Ward in den 1970er Jahren begann, professionell Piercings anzubieten, war das eine revolutionäre Idee – im wahrsten Sinne des Wortes. Piercings gab es zwar in vielen indigenen Kulturen seit Jahrtausenden, doch in der westlichen Welt galten sie lange als Tabu oder wurden auf exzentrische Ausreißer reduziert.

Ward jedoch sah darin eine Möglichkeit, queeren Menschen Räume zu geben, sich selbst zu finden – jenseits der heteronormativen Vorstellungen von Schönheit und Körper. Sein Studio „The Gauntlet“ wurde schnell zu einem Treffpunkt für die queere Szene in Los Angeles. Hier ging es nicht nur um Ästhetik, sondern um Zugehörigkeit, Sichtbarkeit und Stolz.
In den 90er Jahren war das Piercing weiterhin fest in der queeren Community verwurzelt. Body-Modification-Künstler*innen schlossen sich dem Kampf für die Autonomie des Körpers an, für das Recht, mit dem eigenen Körper zu machen, was man wollte.

Piercing war (und ist) ein Akt der Selbstbehauptung – besonders in einer Gesellschaft, die queere Körper oft kontrollieren oder unsichtbar machen will. Sexueller Ausdruck bleibt eine Form von politischem Aktivismus, und queere Menschen sind überall dort kompromisslos „out“, wo sie ein Zeichen setzen können.

Piercings als Zeichen queerer Zugehörigkeit

Lange bevor Pride-Merchandise in jeder Kaufhauskette zu finden war, nutzten queere Menschen subtile Codes und visuelle Zeichen, um sich gegenseitig zu erkennen. Piercings waren – genau wie bestimmte Kleidungsstile, Tattoos oder Symbole – eine Form der nonverbalen Kommunikation.
 Insofern war (und ist) Piercing ein queeres Kommunikationsmittel – vor allem in Zeiten, in denen es nicht sicher war, offen queer zu sein.

Der Mythos vom “Gay-Ear”, Zelebration von Femininität und Geschlechts-Bestätigung

Damals, als es noch viel unsicherer war, offen schwul zu sein, nutzten Männer oft Codes, um sich gegenseitig zu signalisieren, dass sie queer waren. Dies lässt sich gut am Hanky-Code der 80er Jahre erkennen, bei dem verschiedenfarbige Taschentücher in bestimmten Hosentaschen Queerness und das Interesse an bestimmten Vorlieben symbolisierten.

Natürlich handelte es sich dabei um ein inhärent sexuelles Signalsystem, wohingegen das Gay-Ear eine familienfreundliche Version darstellte. Aus diesen Codes entstand ein Satz, den heute nur noch wenige als geläufig kennen: “Links ist cool und rechts ist schwul” Dieses Statement führte in einer Zeit, in der die Piercing-Community stark wuchs und an Popularität gewann, dazu, dass viele Menschen erkannten, dass ein einzelnes Piercing im rechten Ohrläppchen die eigene Identität als Schwuler widerspiegelte.

Als der Code an Popularität gewann und sich weit verbreitete, wurde er jedoch zu bekannt und gefährdete die Sicherheit der Träger. Die Verbreitung der Informationen war jedoch uneinheitlich, und irgendwann konnten sich nur noch wenige darauf einigen, welches Ohr das schwule Ohr war.

Klassische, beidseitige Ohrläppchen-Piercings jedoch symbolisieren das Feiern stereotypischer Femininität – der Prozess, sie zu erhalten, war vergleichbar mit dem Prozess der Einnahme von Hormonen. Millionen von Frauen, Mütter und Töchter, Schwestern und Tanten feierten die Frauen, die vor ihnen gekommen waren und nach ihnen kommen würden, mit diesem Übergangsritus.

Diese Feier war der perfekte Schritt für eine Transfrau, um wirklich zu feiern, dass sie ihre eigene Person geworden ist. Innerhalb der Binarität können simple Sachen wie lange Haare, bunte Nägel, Kleider und schlichte Ohrläppchen-Piercings Balsam für die queere Seele sein. Egal ob cis, trans, innerhalb oder außerhalb der Binarität – Piercings verschaffen einer Vielzahl von Menschen eine positive Geschlechtsbestätigung und Geschlechtereuphorie.

Sichtbarkeit durch Körpermodifikation: Eine Pride-Botschaft

In einer Welt, die queere Menschen oft unsichtbar macht oder in enge Schubladen pressen will, wird der eigene Körper zum Ort des Widerstands. Sichtbar zu sein – durch unterschiedliche Körpermodifikationen – ist nicht nur Stil, sondern auch Haltung. Wer sich bewusst für ein Piercing entscheidet, fordert gesellschaftliche Vorstellungen von „Normalität“ heraus.
Diese Form der Rebellion hat sich längst weiterentwickelt: Heute ist Piercing nicht mehr nur ein Randphänomen. Es ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen – aber seine Wurzeln, seine queere DNA, sind nach wie vor spürbar.

Besonders im Pride Month lohnt sich ein Blick zurück auf die Menschen, die diesen Weg geebnet haben – wie Jim Ward oder Fakir Musafar – und auf die Szenen, die Piercing als Form des Empowerments geprägt haben.

Piercer:innen als Community Builder

In queeren Kontexten waren Piercingstudios oft mehr als nur Dienstleistungsorte. Sie waren und sind nach wie vor Treffpunkte, Safe Spaces, Orte der Ermächtigung. Ein*e Piercer*in ist nicht nur jemand mit einer Nadel, sondern oft auch Zuhörer*in, Unterstützer*in, manchmal sogar Therapeut*in.

Noch heute verstehen sich viele Studios, wie wir auch, als queerfreundliche Räume, in denen es nicht nur um Ästhetik, sondern auch um Körper-Autonomie, Inklusion und Affirmation geht. Besonders  trans und nicht-binären Menschen kann ein Piercing helfen, den eigenen Körper zurückzuerobern – auf eine Weise, die sichtbar und empowernd ist.
Ein Piercing kann deshalb weit mehr sein als ein modisches Accessoire. Es kann ein Statement sein:

„Dieser Körper gehört mir.“

„Ich entscheide, wie ich aussehe.“

„Ich bin stolz darauf, wer ich bin – und ich zeige es.”

Piercer:innen als Community Builder

Ob du selbst gepierct bist oder nicht – im Pride Month geht es um mehr als Äußerlichkeiten. Es geht um das Recht, sich selbst zu definieren. Und darum, diese Definition sichtbar zu leben. Piercings erzählen Geschichten – über Zugehörigkeit, über Mut, über Veränderung. Und sie erinnern uns daran, dass Stolz nicht nur laut und bunt, sondern auch still und unter der Haut sein kann.

Körperschmuck begleitet dich auf jeder Reise, egal ob Coming-Out, Transition, der Festlegung von Pronomen oder der Entscheidung, etwas anderes zu sein – jenseits all der Kategorien, die für so viele queere Menschen von Anfang an als festgelegt gelten.

Pride bedeutet: Du bist gut, so wie du bist.
Deine Piercings sind eine Erinnerung daran und eine Fortsetzung unserer bunten Geschichte!

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